Wie immer bei den Performances von Victorine Müller fühlte man sich auch bei Him am 15. Oktober 2004 in eine Art Schwebezustand versetzt, der selbst elf Jahre später in der Erinnerung wieder abgerufen werden kann. Das Schwebende
kam nicht etwa nur daher, dass die Künstlerin an der Fassade der Gerechtigkeitsgasse über dem Kunstkeller einen durchsichtigen Luft-Flügel angebracht hatte, der die Höhe von zwei Geschossen erreichte – eine fragile Skulptur, die gewissermassen zugleich die Bühne für die Performance bildete. Das Gefühl des Schwebens stellte sich auch deswegen ein, weil die ganze Anlage der Performance im Dunkel des Abends wie eine übernatürliche Licht-Farben-Erscheinung wirkte. Ja, genau das war und ist für mich der Kern dessen, wie Victorine Müller arbeitet: Sie lässt Erscheinungen entstehen, aufscheinend und wieder verschwindend, ephemer und doch eindrücklich in der Erinnerung haften bleibend, zerbrechlich und dennoch stark als Bild. So standen wir – wie viele Personen es waren, weiss ich nicht mehr – gebannt in der Gasse und schauten. Es hatte etwas Feierliches, Stilles, geradezu Märchenhaftes. Im Inneren des Flügels lag die Künstlerin. Sie lag da, auch sie ganz ruhig, eingebettet in den Flügel, geborgen, als ob sie in Abrahams Schoss läge. Eben weil da keine Handlung war, die hätte erzählt werden können, weil es ein Bild war, ein grösstformatiges Tableau, beflügelte das die Fantasie, schossen Fragmente von Mythen und Märchen durch den Kopf, auch sie verschwanden wieder, blieben eigentlich unfassbar, eher ein Gefühl als ein Gedanke, eher ein Traum als Wirklichkeit. All diese Eindrücke fanden dann auch Eingang in einen kurzen Text, den ich damals für die Berner Zeitung schrieb. Der Titel lag nahe: «Kunst verleiht Flügel».
Konrad Tobler, Kunstkritiker