Im Augenblick ... und alles in Reichweite
Gedanken zu der skulpturalen Installation von Victorine Müller Josefine Raab
„Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.“
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus
Im Augenblick ... und alles in Reichweite – Imagination streckt sich himmelwärts,
streifend ein Reich, das alle Sinne berührt; alles ist hier, beseelt: Innen und Außen, Natur
und Mensch, Schöpfung, Stille, Poesie – in Reichweite. Rock (Felsen), Semaille
(Aussaat), Schneeschmelze – die Künstlerin als Zeremonienmeisterin, umflossen von der sie umgebenden Natur. Drei (wer denkt an diesem Ort nicht an Dreifaltigkeit? An die indische Götterdreiheit Brahma, Vishnu, Shiva, die Göttertriaden der alten Ägypter) von der Decke herabhängende Tafeln bilden ein imaginäres Dreieck, die Spitze unmittelbar weisend
auf den Altar: Rock – Im Scheitelpunkt der aufgespannten Achsen, eingebettet in eine bewaldete, karge, übermooste Gebirgslandschaft thront ein mächtiger Fels, in dessen Faltungen die Künstlerin wie selbstverständlich ihren Platz eingenommen hat. Reglos ruht ihr nackter Leib auf dem harten Gestein. Uns zugewandt die rechte Seite, fußaufwärts eine Ahnung von Arm, Brust und Haar, ein Büschel Moos auf Bauch und Scham. ... Der Fels, Sinnbild der Ewigkeit, naturgewobene, steinerne Haut bekleidet mit Flechten und Moosen, die schrundige Oberfläche bevölkert von Wassernasen in leuchtendem Gelb und spitzem Grün. Die Gelehrtensteine der fernöstlichen Kulturen Chinas, Japans und Koreas steigen vor meinen Augen auf: Steine, geformt einzig durch die uralten, nie endenden, nie gebändigten Kräfte der Natur; Steine, in deren Formen, Farben und Texturen der gesamte Kosmos, das Echo der Zeit widerhallt.
Eine mächtige Masse Stein: Mutter Erde einen Leib gebärend, Götterstein, Opferstein, der Felsenapostel Petrus; die heilige Mitte, das Orakel von Delphi, Stein der Weisen, Ort der Wandlung. Der Fels als Spiegelung und Doppelung des Altars.
Wir blicken auf eine wahrhafte „Nature Morte“, ein Stillleben geformt im Zusammenspiel der Ingredienzen und Kräfte eben dieser Natur. Ein Ausschnitt der Schöpfung, umspielt von sanfter Luft, umtönt vom Gesang der Vögel, vom Wispern eines Wassers. Ein betörendes Bild, paradiesischer Frieden, Gleichklang von Mensch und Natur – Tag eins bis sechs der biblischen Schöpfungsgeschichte. ...
Wir wissen um die Versuchung, um die Vertreibung, um das Ende des Traums. Wir wissen, dass in der Erzählung genau hier die Frau zur Inkarnation der Verführung geworden ist eine Angelegenheit mit Implikationen bis weit in unsere Zeit. Und nun ein weibliches Wesen in der heiligen Mitte – lebendig, bei sich, lauschend, wartend ... im Augenblick ... und alles in Reichweite.
„Alles, was Seele ist, ist unsterblich, denn das von sich aus Bewegte ist unsterblich. Was aber nur ein anderes Ding bewegt und von einem anderen bewegt wird, bei dem hört das Leben auf, wie die Bewegung bei ihm aufhört. Nur eben was sich selbst bewegt hört, weil es sich selbst nie verlässt, niemals auf bewegt zu sein, und dies ist auch für alles andere, was bewegt wird, Quelle und Anfang der Bewegung.1 Ich habe die Flügel und die Kraft
Wandern wir weiter im Dreieck kommen wir zu Semaille – Gegenlicht. Himmliches Blau durchzogen vom luftigen Weiß eilender Wolken. Bewaldete Berge, im Vordergrund ein steiniges, grasiges Plateau, verstreut niedriger, holziger Bewuchs. Ich imaginiere einen erhöhten Standpunkt mit Blick in die Ferne. Die Künstlerin barfuß, fest stehend auf unebenem Grund. Kaum mehr als eine fragile, doch kraftvolle Silhouette umhüllt von einem
roten Gewand. ROT Auferstehung. Eros. Feuer. Kraft. Leben. Liebe. Stärke. Die LuccaMadonna 2 Jan van Eycks, umhüllt von dem grandiosen Faltenwurf eines purpurroten Mantels. In einem repetitiven, selbst gegebenen Rhythmus schwingt die rote Gestalt ein Bündel schilfartiger, langstieliger Halme bedächtig hin und her. Sie hat die Flügel und die Kraft. Die wiegenden, tanzenden Bewegungen lösen nach und nach zarte Samenstände aus ährengleichen Blütenrispen, die sich löwenzahnschirmchengleich in alle Winde zerstreuen. Das entgegengesetzte Bild der Ährenleserinnen 3 steigt in mir auf: hier die Saat, dort die Ernte. Werden und Vergehen. Pantha rei. Alles fließt. Die Künstlerin als bewegende Kraft, als Keimlegerin, als Säherin der Stunden-Blumen, dass sie in den Herzen der Menschen erblühen. ...
So ist denn Anfang der Bewegung das sich selbst Bewegende.4 Schneeschmelze – Eine Gebirgslandschaft, Fragmente von Nadelbäumen, tief
hängendes, tropfendes Gezweig in gleißendem Licht. Reste von übernadeltem Schnee. Umhüllt von einer durchsichtigen, fließenden, weiß strahlenden Hülle (Galadriel, Königin der Elben, geboren während der Zeit der Seligkeit5 ) steht die Künstlerin feengleich und wie von Zauberhand unvermittelt auf einer kleinen Höhe mitten im Wald. Dort, im hochzeitlich anmutenden Gewand inmitten silbrig glitzernder Wasserperlen, die wie Feenstaub rieseln, zelebriert sie einen betörend zarten, magisch-poetischen Tanz als feiere sie die Vermählung des Menschen mit den ewigen Gesetzen und Kräften der Natur. Ewigkeit versus Endlichkeit. Der Mensch als Teil eines Ganzen, das Ganze ein immerwährendes Fort und Hier. ...
In Deiner Schwingen Schatten berge ich mich (Psalm 57, 2)
An der Flanke des Dreiecks, gleichsam als Schlussakkord im aufgespannten Klanggefüge, ein durchscheinendes, in farbiges Licht gehülltes, geflügeltes Wesen, himmelwärts strebend. Jahwes Thron ruht auf den Flügeln der Cherubim, welche die Pforte des Paradieses bewachen. Nut, die Himmelsgöttin der alten Ägypter, breitet schützend ihre Flügel aus. Zeus lenkt seinen geflügelten Wagen durch den Himmel. Die Seele hat Flügel, doch auch die Mächte des Dämonischen, der Unterwelt sind geflügelt. Derart bringt Victorine Müller ein Mischwesen zwischen Himmel und Erde ins Spiel, ein lichtes Wollen wandelnd zwischen dunklen Kräften und hellen Mächten? Ein chamäleonartiger Schweif als wankelmütiger Gegenspieler, der die Kraft, die Leichtigkeit der Flügel beugt? Aufstieg? Fall? Dem Licht entgegen oder hinab ins „Herz der Finsternis“ – es liegt an uns, Welt zu gestalten und zu entscheiden, welche Samen wir zur Keimung bringen.
„ ... Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren.“6
Liegen wir noch unter einem Baum und schauen zwischen der großen und zweiten Zehe hindurch in den Himmel? ...“ 7 Ich meine mit Victorine Müllers zauberhaften Werken ja! Wir gewinnen Traum zurück. Entzücken, Staunen, Wundern, Verstehen! Eine Magierin, die, unbeirrt, aus einem tiefen inneren Wissen schöpfend, verschüttete Kostbarkeiten ans Tageslicht zu befördern vermag. Die intuitiv ihrem inneren Klang folgend diesen in ihren Werken zum Tönen bringt. Die uns berührt, betört und lockt. Lockt, die eingetretenen Pfade zu verlassen, unsere Sinne zu schärfen. Eine Schamanin, die um die Quellen weiß und deren feinen, verborgenen Spuren folgend mit jedem Werk ihre Samen aufs Neue verstreut, auf dass sie Früchte tragen in der Welt, in unseren Herzen. Sie schenkt uns Momente der Ruhe, der Schönheit, der Transzendenz, in denen Kraft und Lebenssinn hausen. Sorgsam bis ins allerletzte Detail durchdacht spielt die Künstlerin mit Nähe wie mit Distanz, mit Entfremdung ebenso wie mit Verwunderung und Empathie. Sie vertraut auf die Anmut einer der Natur wie dem Wesen der Dinge innewohnenden Poesie, aus der heraus sie ihren künstlerischen Ausdruck, Rhythmus und Tonalität ihrer Werke schöpft. Mit und in ihrem künstlerischen Universum bringt Victorine Müller das „von sich aus Bewegte“, das Beseelte, als Quelle ans Licht. ...
1 Zit. nach: Platons Phaidros. Kap. XXIV. SS. 57, 58. In: Platon. Sämtliche Dialoge. Hamburg 1988.
2 Die sog. „Lucca-Madonna“ ist ein Gemälde des flämischen Malers Jan van Eyck (1390-1441). Es entstand vermutlich um 1435 und befindet sich im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main.
3 “Les Glaneuses“ (Die Ährenleserinnen) von 1857. Ein Gemälde des französischen Malers Jean-François Millet (1814-1875). Es befindet sich im Musée d’Orsay in Paris.
4 Zit. nach: Platons Phaidros. Kap. XXIV. SS. 57, 58. In: Platon. Sämtliche Dialoge. Hamburg 1988.
5 Galadriel, Königin der Elben, eine der mächtigsten Herrscherinnen in Mittelerde. Eine Figur aus der RomanTrilogie „Der Herr der Ringe“ des britischen Schriftstellers J.R.R. Tolkien (1892-1973).
6 Zit. nach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg, Sonderausgabe 1970.
7 Paraphrasiert nach Robert Musil. Ebenda.
Victorine Müller Die Künstlerin besuchte die Hochschule der Künste in Bern und die F+F Schule für Kunst und Design in Zürich. Seit 1994 hat Victorine Müller national wie international an zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen teilgenommen und eine reiche Zahl beeindruckender Performances in Szene gesetzt. Ihr plastisches Werk umfasst Aufführung, Objekt, Installation, Fotografie, Video, Zeichnung, Skizzen und Malerei; ihre Performances sind auf Foto- und Videomaterial dokumentiert.
www.victorinemueller.com Foto: Andrea Tejeda Korkowski, Mexiko City
Josefine Raab studierte Kunstgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main sowie Sprachwissenschaft, Spanisch und Italienisch als Übersetzerin an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz/Germersheim. Sie ist Gründerin und Direktorin des gemeinnützigen Nachwuchsförderungsprojektes gute aussichten – junge deutsche fotografie, freie Autorin und Kuratorin.
www.guteaussichten.org
Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung Im Augenblick ... und alles in Reichweite in der KunstKulturKirche Allerheiligen – Forum für moderne Kunst und Neue Musik in Frankfurt am Main vom 2. November 2021 bis zum 30. Januar 2022