Victorine Müller

Rede zur Ausstellungseröffnung Im Bild bleibt die Zeit stehen - Part IV, in der Galerie Mönch Berlin

Titel
Rede zur Ausstellungseröffnung Im Bild bleibt die Zeit stehen - Part IV, in der Galerie Mönch Berlin
Datum
9. September 2017
Beschreibung
Originaltext

„Ihr Wesen entspricht ihren Wesen“, hat der Mönch nach unserem letzten Atelierbesuch in Zürich notiert. Und weiter, Victorine komme ihm vor: „wie eine zeitgenössische Schwester des irischen Leprauchuns. Dem mythischen Naturgeist, der sie als Botschafterin der Unterwelt zu uns geschickt hat. Mit ihren Aquarellen auf Papier, mit den transparenten PVC-Hüllen ihrer Skulpturen und ihren Performances erzählt uns Victorine von dieser Welt. Eine Einladung an die Phantasie des Betrachters.“

Wenn wir nun die Aquarelle von Victorine Müller betrachten, ist es nicht leicht, sie auf einen Nenner zu bringen. Schon deshalb, weil jedes dieser Wesen selbst mehrere Möglichkeiten in sich vereint: Da ist der Storchenspatz oder der Nasendinodrachenbär. Im Kabinett weilen ein: Elfensteinflugbockshund oder der Grillenstrauß. Letzterer scheint verwandt mit dem australischen Hanghuhn, das bekanntlich ein kurzes und ein langes Bein hat. Wie überhaupt die Beinkonstellationen von Victorines Wesen bemerkenswert sind. Bei Robert Walser heißt es so schön: „Beine laufen vor dir und hinter dir und du selber beinelst auch, was du nur kannst“

Woher beineln nun diese Gnome oder Elfen, Kobolde oder Olmen? Denn darin sind uns diese Urviecher ja doch nicht unähnlich. Das Blatt um sie herum lässt die Künstlerin weiß. Unbeschrieben, unberührt verrät es nichts über den Ursprung. Wir müssen uns also selbst einen Reim darauf machen. Ich schlage vor, sie kommen aus Gorland, Görlitz oder Göschenen.
Gorland klingt einfach passend für diese Wolpertinger, Görlitz steht für ihren Bezug zu unserer Welt und in Göschenen, im Kanton Uri, sind einige der Aquarelle und der gezeichneten Videos tatsächlich entstanden. Obschon auch Göschenen, für mich als Stadtkind, etwas ganz real Verwunschenes hat. Zum Beispiel gibt es dort einen moosbewachsenen Stein, der in Gestalt eines überdimensionalen Frosches im Wald steht. "Zweifellos“, heißt es in Isaac B. Singers Gimpel, der Narr „besteht diese unsere Welt nur in unserer Einbildung, aber sie liegt von der wirklichen Welt nur einen Katzensprung entfernt."

Vielleicht ist Göschenen ein Teil von Victorine Müllers Anderswelt. Vielleicht hat die Künstlerin die 500-Seelen-Gemeinde nahe des Gotthard-Passes während ihrer Stipendienaufenthalte auch dazu gemacht. Hier ein Foto von Victorines Performance „timeline“, neulich im Kunstdepot Göschenen, als realer Beweis für Singers Katzensprung. Victorines Figuren, Figurinen und Wesen scheinen aufs Blatt zu wehen, zu fließen. Tauchen auf, aus diesem Reich, das die keltische Mythologie als Anderswelt kennt. Sie schnäbeln freundlich und versöhnlich, äugeln empathisch und weise, sind verspielt und verträumt.
Der Grundtenor dieser Aquarelle ist charmant, erotisch und von subtilem Witz. Doch ihre Fabelhaftigkeit und Leichtigkeit scheint in jedem Moment zu kippen, scheint bedroht. Manche tigern unruhig durch die Oberwelt, andere stampfen finster durch die Unterwelt, blicken grimmig auf die Zerstörung unseres Lebensraums, der letztlich ja auch ihr Lebensraum ist. Allein die jüngsten Katastrophen in den Schweizer Alpen, auf den Karibikinseln und in Mexiko zeugen von den Folgen menschlicher Hybris.

Elfriede Jelinek schreibt in ihrem Stück er nicht als er, das den Untertitel zu, mit Robert Walser trägt: „Wenn ein Tiger keine Gelegenheit zu haben glaubt, Tiger zu sein, will er aus Verdruß oder Wehmut sogleich ein Schaf werden. Damit meine ich: Jeder sollte sich so klein machen, wie er nur kann. Das soll gern auch für mich gelten.“
Aber wie schwer fällt es, von uns abzusehen und nicht um uns selbst zu kreisen. Die Kunst von Victorine Müller ist ein Angebot mit Ruhe und Demut in andere Welten zu blicken. Ihre Wesen sind zart und ephemer, zugleich kraftvoll und wissend. Verwurzelt in einer ganz eigenen Energie. Da ist das pointierte Aquarellieren wie eine künstlerische Momentaufnahme. Da sind die ständigen Verwandlungen in den Videos. Trotz des Flüchtigen scheinen diese Wesen eine lange Geschichte zu haben.
In der Kunstgeschichte finden wir ihre Ahnen bei Hieronymus Bosch oder Pieter Breughel, in der Literatur in Shakespeares Puck aus dem Sommernachtsraum oder Ariel, dem Luftgeist aus Der Sturm. Sie erinnern an den Elfenkönig Alberich des mittelalterlichen Nibelungenlieds und an Die Vögel von Aristophanes.
In den gezeichneten Videos kommt diese Historie zudem in Bewegung. Die Figuren begegnen und umärmeln sich, wachsen ineinander und über sich hinaus. Bilden kuriose Verbindungen und verwandeln sich zu ständig neuen Konstellationen. Jedes Video besteht aus einer einzigen Zeichnung! Die Künstlerin zeichnet und radiert, zeichnet weiter und … Ein geduldiger Prozess von Hinzufügen und Wegnehmen, von Werden und Vergehen, in dem sich Erlebtes und Erinnerungen palimpsestartig ablagern.

Der Neurowissenschaftler Ernst Pöppel hat neulich in der Neuen Zürcher Zeitung dafür plädiert, dass die Wissenschaft sich die Intuition der Dichter mehr zu eigen macht: „Anscheinend ist die Macht des impliziten Wissens oder der Intuition viel stärker, als wir zu glauben geneigt sind. Albert Einstein hat angeblich bemerkt: »Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.«”
Victorine Müllers Wesen kommen direkt aus ihrer künstlerischen Tiefe. Sie vermögen, uns staunen zu machen und das Geschenk wieder mehr zu bedenken.